2010


10 Künstler – 10 Tage – 10 Orte im Bahnhofsviertel Münster

Anne Kückelhaus
| Nikola Hamacher | Tassilo Sturm | Maike Brautmeier | Michael Pohl | Anke Gollup
Damaris Lipke & Gilla Cardaun | Jae Pas | Gertrud Neuhaus| Susanne von Bülow





Anne Kückelhaus

Waiting for the mailman to come ...


11Anne Kückelhaus scheint den Ausstellungstitel häuser I bilder I fenster ganz wörtlich genommen zu haben: Das Haus ist zwar nur eine Hütte, aber es ist ebenso vorhanden wie die Bilder und direkt im oder sogar am Fenster zu sehen. Dabei könnte man das hbf-Kürzel in diesem Falle auch ganz anders auflösen, als „Hund, Briefträger, Fressen“. In Wirklichkeit heißt Kückelhaus‘ Arbeit nämlich waiting for the mailman to come...
Und wer da so sehnsüchtig auf den Postangestellten im Außendienst wartet, ist nicht etwa die verliebte Apothekerin, sondern des Briefträgers Lieblingsfeind: Der Hund. Genauer ge- sagt: der Wachhund. Das Exemplar, das die Künstlerin hier als keramische Skulptur geformt hat, besitzt zwar eine kulissenhafte Hütte als Attribut, ihm fehlt aber etwas ganz und gar Entscheidendes: Der Kopf. Wie er als solch kopfloses Wesen noch kraftvoll zubeißen kann, bleibt rätselhaft. Dass er es dennoch tut, gilt jedoch als ausgemacht. Denn in Form von sieben stark reduzierten Tuschezeichnungen zeigt die Künstlerin eine ganze Reihe von Gegenständen aus dem Apothekenarsenal, die zur Verarztung einer Bisswunde nötig werden könnten und in einem Extrablatt das ansonsten fehlende Hundegesicht als Erinnerungs- oder Fahndungsbild. Wir werden also mit einer elliptischen Erzählung ebenso konfrontiert wie mit einer torsohaften, unvollständigen Skulptur. Das heißt zum einen, dass fortlaufend Erwartungen
enttäuscht werden: Der Hund wartet bislang vergeblich auf seinen Briefträger, wir suchen vergeblich nach der Vervollständigung des Hundes wie auch der ganzen Geschichte. Das macht die Angelegenheit natürlich spannend: Weil wir uns unseren Teil dazu denken dürfen, ganz furchtbare, monströse Dinge – hat sich der Kopf selbständig gemacht, um desto befreiter seiner Beißwut nachzugehen? Hat umgekehrt der Briefträger inzwischen Rache genommen und den Hund geköpft? Wir wollen es uns gar nicht so genau ausmalen.
Da wir über das Was nur bruchstückhafte Informationen erlangen, wird unsere Aufmerk- samkeit umso mehr auf das Wie gelenkt: Auf die formalen Qualitäten der Zeichnungen ebenso wie auf die der Skulptur, die eben keine glatt gebügelte Porzellanfigur ist, die man sich in den Vorgarten, aufs Wohnzimmerregal oder eben ins Apothekenschaufenster stellt, sondern eine unter der rauhen Oberfläche höchst lebendig wirkende, tierische Gestalt, mit erkennbar gespannter Muskelkraft im bulldoggigen Leib. Was im ersten Moment also einer gewöhnlichen Schaufensterdekoration viel zu nahe zu kommen scheint, entpuppt sich nur als ein weiteres Manöver der Künstlerin auf ihrem Spe- zialgebiet „Tarnen und Täuschen“, als ein abgründiges Spiel mit Klischees und eine bittere Pille unter kunstvollem Zuckerguss. Hier lauert nicht bloß ein enthaupteter Hund, sondern eine Studie über enttäuschte Erwartungen, Abwesenheit, Wunden und Schmerz.

www.annekueckelhaus.de




Nikola Hamacher

Videoinistallation


11Nikola Hamacher macht aus ihrem Schaufenster eine Fensterschau, denn Fenster ist das Thema ihrer Video-Arbeit, genauer gesagt: ein Fensterputzer bei der Arbeit. Dabei geht es ihr nicht um die soziale Komponente von Arbeiten im Niedriglohnsektor im Allgemeinen oder ein Denkmal für den unbekannten Fensterputzer im Besonderen. Es zeugt vielmehr von künstlerischer Konsequenz, sofern man weiß, dass Hamacher schon ganze Ausstellungen mit Projektionen stiller und bewegter Bilder in Fenstern bestritten hat, derart Privatwohnungen und Geschäftsräume in riesenhafte Leuchtkästen verwandelnd. Ungewöhnlich sind die Perspektiven, die die Künstlerin uns hier bietet. Denn auch wenn uns das Gezeigte zunächst allzu alltäglich vorkommen mag, um bemerkenswert zu sein, finden hier doch etliche Verschiebungen statt, die allesamt Überlegungen über den Blick anzustoßen vermögen.Da ist zunächst die enorme Vergrößerung, die uns im Zeitalter von Multiplex-Kinos kaum noch der Rede wert scheint – und natürlich auch eine Frage der Distanz ist. Daran schließt sich die Umkehrung der Perspektive an, denn wir sehen von außen in einen geschlossenen Raum, blicken aber im Film von drinnen nach draußen und selbstverständlich sehen wir nachts eine in hellem Tageslicht sich abspielende Szene. Durch all diese Verfremdungen gewinnt das scheinbar Banale plötzlich unser Interesse. Gesteigert wird dieser Verfremdungseffekt noch dadurch, dass hier nicht, wie es zu erwarten wäre, frontal geputzt wird, sondern, aus Sicht der Kamera, über unseren Köpfen. Denn die Künstlerin hat das Fensterputzen durch ein schräg geneigtes Dachfenster gefilmt.Nikola Hamacher ist dabei weniger an filmischen Fragestellungen interessiert – ihr Video ist vor allem malerisch gedacht: Dreimal hintereinander, in wechselnden Fensterausschnitten, sieht man grünende Bäume und ein Stück vom Himmel. Außerdem, je nach Sonnenstand, deutlich oder nur scherenschnitthaft den Fensterputzer von den Füßen aufwärts, sozusa- gen mit den Sohlen in unserem Gesicht. Und wie dann Himmelsblau und Laubgrün allmäh- lich verschwinden unter einer dicken Schicht blasigen Seifenwassers. Das ruhige Tempo und die routiniert fließenden Bewegungen des Putzmannes schließen eine Assoziation an action-painting aus. Aber an große, gestische Pinselschwünge auf einer Leinwand erinnert schon, was sich da zwischen uns und den Fensterausblick schiebt. Alles verunklärt sich, Raum und Formen verschwinden, was bleibt ist eine einzige Fläche mit schwungvollen Mustern in Seifenschaumgrau. Bevor der nächste Wisch- und Waschgang uns wieder Klarsicht verschafft. Insofern ist Hamachers Fensterbild ganz und gar emblematisch zu deuten.

www.nikola-hamacher.de





Tassilo Sturm

I‘m lonesome


11Tassilo Sturm bedient sich des Mediums Video. Ihm dient es zur Spiegelung, Brechung, Vervielfachung einer eigenen Performance. Diese trägt das hbf zwar nicht im Titel, fand
aber genau dort statt, am Hauptbahnhof nämlich, genauer gesagt im südlichen der beiden Fußgängertunnel. Das Ortsspezifische findet sich hier also in einem engeren Sinne wieder – wird aber gedehnt oder gebrochen durch die räumliche Verschiebung: Der ursprüngliche Ort des Geschehens und der Ort seiner Präsentation liegen wenige hundert Meter auseinander. Vielleicht schleicht sich schon hier die erste Verunsicherung ein. Der Künstler wählt sich den Bahnhof als Ort des Transits, als Ort der massenhaft und im Zweifelsfall hektisch beschleunigten Menschen unterwegs. Im Fußgängertunnel, der an sich schon ein unwirtlicher Ort ist, stellt er sich, mit dem Rücken zur Kamera, mitten in den Hauptstrom der Reisenden. Er hebt mit beiden Armen ein Schild in die Höhe. Von hinten lässt sich nicht erkennen, ob dieser Akt eher eine Solo-Demonstration ist oder das an Bahn- höfen gelegentlich vorkommende, suchende Hochhalten von Hotel-, Reiseveranstalter- oder Personennamen. An der Geschwindigkeit der Fußgänger sieht man, dass der Film in Zeitlupe abläuft. Manche blicken irritiert zum Schild, die allermeisten umgehen das menschliche Hindernis auf ihrem Weg einfach wie einen abgestellten Koffer. Der Film ist stumm, die Umgebungsgeräusche sind völlig weggeblendet.
Das verstärkt den Eindruck des Alptraumhaften, aber auch den der Isolation – der Mensch wirkt wie gefangen im Tunnel, eingesperrt im Monitorbild, dieses wiederum weggeschlos- sen im leeren Raum hinter dem Schaufensterglas.
Beim Betrachten dieser Aktion lässt sich, noch während wir nach einem Sinn für dieses merkwürdige Gebaren des solistischen Demonstranten suchen, ein überwältigendes Gefühl von Vergeblichkeit kaum verdrängen.
Und dann, kurz vor Ende der Videoschleife, wenn schon niemand mehr daran glaubt, dass noch etwas passiert, dreht der Mann im Bahnhofstunnel sich um: Auf dem Schild steht „Ich bin einsam“.
Wie reagieren wir darauf? Anders als die Passanten im Bahnhof? Wie laut oder auch nur deutlich darf ein Individuum seine persönlichen Belange
nach außen tragen in die Anonymi- tät der Stadt? Was machen wir, wenn uns vollkommen unaufdringlich, aber deutlich mehr abverlangt wird als bloß ein bisschen Kleingeld?

www.wald-frieden.net




Maike Brautmeier

Das verloreneParadies


11Der Bahnhof als Ort der Sehnsucht, des Abschieds und der Verlassenheit ist Thema der Installation von Maike Brautmeier: Das verlorene Paradies steht wie ein Werbeschriftzug an die große Fensterfront eines ehemaligen Tabakwarengeschäftes geschrieben. Die Schrift ist grün. Und auch ansonsten alles im Raum dahinter: Der Fußboden, die Pflan- zen, die Farbe der Wände, die Fototapete mit dem Waldbild. Aber auch die Zahnbürste und das Haarspray. Wo befinden wir uns hier? Offenbar nicht, wie man es im Bahnhof vermuten könnte, vor einem temporär geschlossenen Reisebüro, das uns schon wieder mal den nächsten Urlaub im Paradies verspricht. Es ist ein merkwürdiger Zwitterraum zwischen Natur und Zivilisation, Kunst und Künstlichkeit, Kitsch, Kulisse und Klischee. Jedenfalls sehen wir Versatzstücke einer ärmlichen Wohnungseinrichtung, eine Matratze, einen Tisch mit zwei Stühlen, Fernseher, Waschbecken, Handtuch...und einer Heizung: Das Paradies ist beheizt. Aber auch gemütlich?
Aus dem Waschbecken wuchern Farn und andere Kräuter, Pflanzen sprießen aus dem Kopfkissen, haben den Fernseher schon gesprengt und drohen auch den Rest des Raumes zu überwuchern. Das hat etwas Bedrohliches und man denkt eher an den Ausdruck von der „grünen Hölle“ eines undurchdringlichen Dschungels als an ein grünes Naturparadies.
Man könnte jetzt mutmaßen, dass es sich dabei um die Rückeroberung der Zivilisation durch die verdrängte, sich rächende Natur handele. Aber die Mehrzahl der Pflanzen ist gar nicht echt, sie sind aus Stoff und Plastik, genauso kulissenhaft wie der photographierte Wald im Hintergrund. Also doch eher ein Sinnbild für ganz andere Dinge? Oder nur ein klischeehaftes Abziehbild, das uns die Künstlerin hier vorführt, unterstrichen durch ihre Kitsch-as-Kitsch-can-Bemühungen? Als Kulisse hat dieses künstliche Paradies jedenfalls einst gedient, das erkennen wir am Zentrum der ganzen Installation: da hängt schwebend ein großes, gerahmtes Photo, das offenbar in diesem Raum aufgenommen wurde. Auf ihm sehen wir eine junge Frau im Apfel- musterkleidchen am Tisch sitzen. Auf dem leeren Stuhl gegenüber das Bild eines offenbar nackten Jünglings, mit Schlange und Apfel. Dieser neuzeitlichen Eva ist offenbar der Adam abhanden gekommen und, wie es scheint, damit auch gleich das Paradies. Mehr als nur melancholisch versonnen blickt die Eva auf den angebissenen Apfel in ihrer Hand. Eher schon mit dem Ausdruck stumpfen Brütens. Aus Eva der Verführerin ist Eva die Verlassene, die Betrogene geworden, die sich aus Verzweif- lung beinahe kahl geschoren hat, Eva die Einsame. Wenn wir den Blick nun wieder vom Photo weg auf das Ganze richten, bemerken wir neben der raffinierten räumlichen Doppelung auch die zeitliche Verschiebung. Wir stehen vor einem Paradies, das gar nicht mehr bewohnt ist, auch von keiner Eva. Ihr Kleidchen liegt auf dem Bett, Adams Photo steht auf dem Tisch, daneben liegt der angebissene Apfel. Als sei Eva gerade erst entschwunden. Oder würde gleich wiederkommen. Immerhin ist grün ja auch die Farbe der Hoffnung.

www.maike-brautmeier.com



Michael Pohl

Die Sonnenbader-Meinhof-Gruppe


11Tief im Inneren des Bahnhofs hat Michael Pohl seine Arbeit gut getarnt platziert. Unweit der Toiletten, in einer Reihe ziemlich großer, nicht sonderlich tiefer Vitrinen, die sonst für allerlei merkwürdige Reklame herhalten müssen. Der Künstler hat seine Vitrine nur leicht modi- fiziert, mit einer zusätzlich eingezogenen, dunkelgrün gestrichenen Wand, um uns seine Arbeit ganz buchstäblich näher zu bringen. Auf das Glas geschrieben steht „Bekanntma- chungen“. Das hört sich hochoffiziell an, widerspricht aber dem, was wir sehen: Ein Plakat mit einem Raster von neun mal acht Quadraten, ziemlich grob gepixelten Fotos offensicht- lich, mit überwiegend grünem Hintergrund, auf denen bunte Flecken zu sehen sind. Was ist das? Bei manchen der grünen Bildchen lässt es sich nach eingehender Betrachtung dann doch so ungefähr erahnen: Es sind Menschen, Menschen von oben, aus der Luft abgelich- tet, offenbar aus großer Entfernung. Manchmal kann man ein Detail erkennen, wie z.B. ein Fahrrad, häufiger bunte Decken oder Handtücher – allen Leuten gemein ist aber, dass sie auf einer Wiese sitzen oder liegen um sich zu sonnen. Abgesehen von ein paar Klugen, die im Halbschatten braun werden wollen.
So richtig interessant wird das Großplakat aber erst durch seine Beschriftung: „Kennen Sie diese Personen?“ steht ganz fett oberhalb der Bildquadrate. Und sofort ist klar: Das ist nicht einfach ein Poster vom Aussehen eines Memory-Spiels, das ist ein Fahndungsplakat. Zumindest die Parodie eines solchen.
Die Unterzeile „Zuletzt gesehen: Aasee, Münster“ hilft uns, die Fotos in einen Zusammen- hang zu stellen. Die Luftbilder stammen also nicht von irgendwoher, sondern aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Was mancher vielleicht schon erahnt hat und vom Künstler auch korrekt als Quelle angegeben wird: Es sind maximal herangezoomte Satellitenbilder von Google-maps. Der Künstler hat alle Menschen, die er auf seinem Bildschirm in der Umgebung des Aasees ausmachen konnte, virtuell ausgeschnitten und nebeneinander
gestellt. Das Problem ist natürlich, dass man auf den Fotos so gut wie gar nichts erkennen kann, so dass die eingangs gestellte Frage eigentlich völlig ins Leere läuft. Aber wenn man erst einmal angefangen hat, in den Flecken Menschen zu erkennen, bemüht man sich vielleicht doch: Ist der mit dem roten Handtuch und dem, was aussieht wie ein bedrucktes blaues T-Shirt nicht vielleicht....?
Michael Pohl treibt sein Spiel noch weiter: Wie es sich für ein Fahndungsplakat gehört, existiert es nicht nur als Unikat - in Form von Handzetteln hat der Künstler es in der ganzen Stadt verteilt. Wobei nicht ganz klar ist, ob das nicht vielleicht doch nur eine besonders raffinierte Form der Eigenwerbung ist.
Andererseits: In Zeiten der schon manchmal hysterische Züge annehmenden Debatten um Google- streetview, ist der bedrohlich ernste Unterton nicht ganz auszublenden. Sicher, man kann sich prima darüber amüsieren, dass hier alle Sonnenbader einer fiktiven Meinhof- gruppe zugeschlagen werden. Auch darüber, dass die Satellitenansichten im Netz offenbar nicht allzu häufig aktualisiert werden, denn da liegen schon seit Jahren immer die selben sich sonnenden Terrorverdächtigen im Gras. Aber die Verunsicherung bleibt: Wer sieht und weiß hier wieviel von uns? Wie groß ist Big Brother wirklich?
Eine passende Fußangel hat Michael Pohl auch im Kleingedruckten versteckt: Nur im ersten Moment klingt sie ganz amtlich, die letzte Zeile: „Hinweise können vertraulich behandelt werden.“ Das heißt auf gut deutsch: müssen sie aber nicht. Und in unser Amüsement schleicht sich ganz hinterhältig ein Schauder ein: Wie ist das mit der Information in unserer nach ihr benannten Gesellschaft? Und wie mit den Informanten? Und wer überwacht hier eigentlich wen?

www.michaelpohl.de



Anke Gollub

Nach Hause

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Anke Gollub hat auf dem Vordach der Eingangshalle zum Hauptbahnhof eine zweiteilige Installation mit dem Titel Nach Hause realisiert: Aus LED-Lichtschläuchen hat die Künst- lerin die beiden Worte geformt. Ein bißchen wie jede andere Leuchtreklame, aber auch wieder nicht. Dafür ist sie nicht grell, nicht hektisch blinkend genug, hat sie einen etwas zu privaten Charakter, besitzt sie einen zu zurückhaltenden Charme. Aber das sorgt für genau die Menge an Irritation, die vielleicht nötig ist, um die Schrift auf Anhieb herauszuheben aus der bildlichen und schriftlichen Reizüberflutung, wie sie in der unmittelbaren Umgebung eines Bahnhofsgebäudes nun einmal herrscht.
Einerseits passt der Schriftzug so hervorragend an seinen Ort, dass man ihn im ersten Mo- ment als gegeben hinnimmt und sich nicht weiter wundert. Andererseits wird schon beim ersten Innehalten und Nachdenken klar, dass dies definitiv keine Werbung sein kann. Dass diese Richtungsangabe, diese Antwort auf die Frage „Wohin?“ geradezu universell gelesen und verstanden werden kann. Als freudiger Ausruf, als Aufbruchssignal, als traurig resig- nativ besetztes Eingeständnis, als inniger Wunsch nach einem Sehnsuchtsort (eventuell sogar einem extraterrestrischen) oder aber als Bezeichnung für das Ende einer schönen Reise. Überwiegen wird im Zweifelsfall der sehnsuchtsvolle Charakter des Heimwehs, das in Bahn- höfen genauso präsent ist wie das Fernweh, nur dass es seltener beworben wird. Schließlich lässt es sich nicht annähernd so gut verkaufen, dazu ist Heimweh, ist das nach Hause dann doch zu individuell. Auch wenn es eigentlich über jedem Bahnhof stehen könnte. Diesem ruhig leuchtenden Schriftzug der Sehnsucht – der Nachtseite ihrer Arbeit – hat die Künstlerin als wesentlichen zweiten Bestandteil zwei so genannte Sky Dancer als Tagseite beigesellt. Was wir am ehesten von Rummelplätzen, aufwendigeren Werbeveranstaltungen oder Kinderbespaßungen kennen, hat Anke Gollub sich als wild bewegtes Türwächterpaar zu ihrer Heimwärts-Leuchtschrift hinzukomponiert. Das sorgt tagsüber, wenn die Leucht- kraft der Buchstaben schwindet, für mehr Aufmerksamkeit und verleiht dem Ganzen nicht nur skulpturalen, sondern auch einen übermütig fröhlichen Charakter. So dass die Schrift- auslegung dann wohl doch eher positiv ausfallen muss – angesichts der in ekstatische Freudentänze verfallenden Schlauchwesen. Die sind zwar ziemlich hohl, aber immerhin in neongrellen Farben nach den Vorstellungen der Künstlerin gehalten. Die Gesichter sind we- niger individuell, die gibt es nur vom Band, den Gesichtstyp „Rudi“ und den von „Elli“ – aber als Identifikationsfigur, als Projektionsfläche wird es schon für beide Hälften des Menschen- geschlechts reichen.ziehen in andere, schönere Sphären.

www.foerdervereinaktuellekunst.de



Damaris Lipke & Gilla Cardaun

High Energie


11Am letzten Ende des Bahnhofsgeländes, noch hinter der Bundespolizei, kurz vor dem Beginn des Hamburger Tunnels, gibt es eine ansonsten ungenutzte, flache Vitrine, die selbst alteingesessene Anrainer und Berufspendler noch nie zur Kenntnis genommen haben. Diese aufzuwerten und auf ein höheres Level zu heben, sowohl der Wahrnehmung als auch des ästhetischen, reflexiven und spirituellen Niveaus, hat sich Damaris Lipke zusammen mit ihrer Kollegin Gilla Cardaun vorgenommen. Higher Energie ist der Titel ihrer Arbeit. Die Zweisprachigkeit deutet bereits eine Sollbruch- stelle an, verweigert sich der glatten Konsumierbarkeit. Damit keiner auf den Gedanken kommt, es könne sich um ein modisches Pseudogesundheitsgetränk namens higher energy handeln oder, auf der anderen Seite, hieße die Arbeit „Höhere Energie“, um die Werbeveranstaltung für einen Esoterikworkshop. Die Wahrheit liegt nicht irgendwo dazwi- schen, eher anderswo. Sie ist auch um einiges komplexer. Äußerlich betrachtet lebt das Werk vom Kontrast der trostlosen Umgebung mit einer mög- lichst positiv besetzten Kunst-Ecke; innerlich-inhaltlich ist die Vitrine aber enorm aufge- laden. Zu sehen gibt es nicht viel: Aus der düsteren verlassenen Ecke ist ein ganz in Weiß gestrichenes, mit weißen Steinen ausgelegtes, nachts von zwei Kugellampen hell erleuch- tetes Schauräumchen geworden. Im Prinzip so etwas wie der optimale Auftrittsort für die Skulptur von Gilla Cardaun, die auf den ersten Blick aussieht wie eine Buddhastatue. Ohne hier einen Schnellkurs in Buddhismus abhalten zu können, sei immerhin so viel gesagt, dass mit einer Buddhafigur weder Mensch noch Gottheit gemeint ist, eher ein Zustand oder eine Eigenschaft. Deshalb kann Cardaun die Buddhafigur auch leichter Hand umdeuten zu einer erkennbar weiblichen Gestalt.
Diese Erleuchtete hat von der Künstlerin den Namen Gaia erhalten. Damit verweist sie auf die gleichnamige antike Göttin, die als Personifikation der Erde zu den ältesten griechi- schen Gottheiten überhaupt zählt und in erster Linie als Lebens Spendende, alles hervor- bringende und nährende Göttin verstanden wird. Das ist einigermaßen synkretistisch, aber ungemein positiv.
Erleuchtung und Beleuchtung sind zwei Paar Schuhe, aber auch die für die Kugellampen verantwortliche Damaris Lipke will nicht bloß die Skulptur ihrer Kollegin ins rechte Licht rücken, sondern positive Energie verbreiten. Dabei beruft sie sich ebenfalls auf die Antike, in ihrem Fall auf den atomistischen Materialismus des Demokrit, nach dem unsere sinnliche Wahrnehmung dadurch funktioniert, dass sich von allen Dingen beständig unsichtbare Atome loslösen und so ihr Abbild in unser Inneres transportieren, sich sozusagen in unsere Seele hineinbilden.
Zusammenfassend könnte man also sagen: Die unscheinbarste, traurigste Ecke des Bahnhofsgeländes hat sich in eine Art von interreligiösem, transkulturellem Andachtsraum verwandelt, einem Herrgottswinkel nicht unähnlich, oder, wem das zu weit geht: in eine kleine spirituelle Tankstelle, um sich mit higher Energie zu versorgen.

www.kunstnetznrw.de/kuenstler

www.gillacardaun.de



Jae Pas

Hamburger Point im Gabriel‘s
Gabriel‘s im Hamburger Point

11Das Künstlerduo jae pas hat einen raffinierten Rollentausch zwischen Gourmettempel und Imbissbude in Szene gesetzt. Die Künstler agieren im Verborgenen, im Rampenlicht stehen die Köche vom Hamburger Point einerseits und vom Gabriel‘s im Kaiserhof andererseits. Diese haben sich zu einem gastronomisch-soziologischen Versuch anstiften lassen: In jedem der beiden Restaurants gab es drei Tage lang ein Gericht aus dem jeweils anderen zu essen. Dieser Menütausch bedeutete zweierlei: Im Hamburger Point gab es, zum original gehobenen Preis: Amuse-Gueule, Duo von Havelaal und Entenleber, Rote Beete und Peter- silie; ein dazu passender Wein konnte auf Wunsch (und gegen Aufpreis) ebenfalls geordert werden. Dagegen servierte der Hamburger Point im Gabriel‘s wahlweise das Hamburger- oder das Cheeseburger-Menü, bestehend aus Hamburger/Cheeseburger, Pommes Ketchup/Majo und einem alkoholfreien Getränk, ebenfalls zum Originalpreis. Die Bestellungen konnten ganz normal aufgegeben werden – den Rest erledigte das Personal, dem dann die Aufgabe zufiel, das bestellte Essen zum Tisch im entfernten Nachbaretablissement zu bringen, also das Hamburger-Menü ins Gabriel‘s und den Gourmetteller in den Hamburger Point. Zugegeben, ein bisschen Verwirrung stiften wollen die beiden Herren von jae pas schon. Aber ihre Idee erschöpft sich nicht in der reinen Provokation. Was die zwei interessiert, ist das Entstehen von Geschichten und Gerüchten – und welcher Ort wäre dafür besser geeig- net als eine Küche – oder zwei? Einen Stein des Anstoßes ins Wasser werfen und abwartend zusehen, was er für Kreise zieht – so könnte man generell ihre Taktik beschreiben. Aber dahinter steckt in diesem Fall natürlich auch eine exemplarische Überschreitung fester Milieugrenzen. Sie führen bildhaft vor Augen, wie heftig die gesellschaftlichen Kontraste vor Ort sind. Und wie fremdartig, ja höchst irritierend der nachbarliche Besucher am „falschen“ Ort erscheint. Schließlich haben wir es hier im Bahnhofsviertel mit einer für Münster sonst eher untypischen gesellschaftli- chen Mischung zu tun. Die Busfahrer und diejenigen, die ihre Luxuskarosse im Zweifelsfall noch nicht einmal selber lenken müssen, die Immobilienmakler und die Punks, die Fernrei- senden und die Nichtsesshaften, alle begegnen sich hier. Das heißt: Ob sie sich begegnen, das ist noch die Frage. Aber jae pas versuchen, das ein bisschen wahrscheinlicher zu machen.



Erklären Sie mal Ihrem Bankberater, dass sie Künstler sind!


11Um ein rotes Ein-Buchstaben-Logo hätte es gehen sollen, um das allseits bekannte Sparkassen-S. Aber daraus wurde nichts. Der Idee von jae pas wurde vor Ort bis kurz vor Ausstellungsbeginn zwar mit großer Sympathie begegnet. Aber das Spiel mit dem Logo, als einem international bekannten und weit verbreiteten, hätte nach Ansicht übergeordneter Marketingfachleute und Öffentlichkeitsarbeiter doch einen zu großen Eingriff in die Marke bedeutet, weshalb der Vorschlag letztlich doch nicht realisiert wurde. Die Kunst gab es also nur im Konjunktiv. Was jae pas hätten machen wollen, wäre Folgen- des gewesen, schlicht aber wirkungsvoll: das Logo der Sparkasse umzudrehen. Einfach auf den Kopf zu stellen. Aus dem leuchtenden Wegweiser in die Heimat der Kleinsparer wäre nichts anderes geworden als ein Fragezeichen. Daran hätte man viele große und kleine Fragen anknüpfen können: Ist die große Finanz- krise noch global oder nur lokal auf meinem Konto? Wer arbeitet noch für mich, wenn es schon mein Geld nicht tut? Wo ist eigentlich mein Sparstrumpf? In Wahrheit sind jae pas ja viel bescheidener. Sie haben ihrer Arbeit den schönen Titel gegeben: Erklären Sie mal Ihrem Bankberater, dass sie Künstler sind... Was die Aktion eher in ihrer ganz privaten Lebenssituation ansiedelt. Genauer gesagt natürlich im Leben so gut wie aller Kunst- und Kulturschaffenden. Wie man sieht, war der Titel geradezu prophetisch gewählt. Denn auch wenn es hier weder um Kreditvergabe noch Bonitätsprüfung ging – verwirklichen ließ sich ihr Ansinnen nicht, die Künstler hatten das Nachsehen. Gewonnen hat: die Kunst. Ohne Wenn und Aber, nur mit einem Fragezeichen.

www.jaepas.de



Gertrud Neuhaus

Installation


11Gertrud Neuhaus nähert sich auf rein formaler Ebene ihrem Ausstellungsort. Die Apotheke hätte auch Dönerbude oder Reisebüro sein können. Denn die Künstlerin nimmt sich des Themas Schaufenster in höchst paradoxer Manier an. Sie verweigert sich dem Exhibitionistischen, verwehrt uns den Einblick, aus der Verkaufsauslage wird unversehens etwas geheimnisvoll Verborgenes, den Blicken entzogenes: Sie zieht den Vorhang zu. Das kann man zunächst einmal als Geste der Konsumverweigerung deuten, als ein Zumachen, Verschließen. Positiv gewendet: Aus dem reinen Werberaum der Schaufenster-auslage wird wieder ein Privatraum gewonnen. Was sich darin abspielt, können wir nur erraten und vielleicht wollen wir es so genau auch gar nicht wissen – immerhin strahlt auch in den Augen der Künstlerin ihr Vorhang eine gedeckt-verdreckt bunte und zugleich miefige Mischung aus „Grusel und Gemütlichkeit“ aus, die uns Trübsinniges vermuten lässt. Man kann die Perspektive jedoch auch umdrehen und sich vorstellen, man stünde hinter dem Vorhang: dann würde er nur unterstreichen, was wir schon immer wussten: das wahre Theater ist auf der Straße. Auch so, als Kulisse für das Alltagsgeschehen in der Windhorst- straße macht Gertrud Neuhaus‘ Vorhang einiges her. Immerhin wird auch dem flüchtigen Passanten klar, dass es sich dabei nicht einfach um ein Stück bedruckten Stoffes handelt. Das Ding, das da hängt, ist eher ein Gemälde. Wenn auch ein vielfach gefälteltes. Zöge man den Vorhang glatt, würde man feststellen, dass das Muster völlig aufreißt – es ist so gemalt, wie es hängt. Erstaunlicherweise nicht mit Pinsel und Farbe, sondern direkt aus der Spraydose. Neuhaus ahmt so in Technik und Geste die Graffiti nach, ohne aber zugleich in deren Formen ästhetischer Beleidigung zu verfallen. Hier sind stattdessen nicht nur Dezenz und Zurückhaltung am Werk, sondern auch feinsinnige Anspielung.
Es handelt sich nämlich in den fünf mal sechs Feldern des Vorhangbildes um eine ornamen- tale Verdichtung der unmittelbaren Umgebung: Der vermeintlich völlig abstrakte Rapport der gelben Winkel ist in Wahrheit eine äußerst reduzierte Variante des Logos der Christophorus- Apotheke. Und was da ein bisschen wie das internationale Hoheitszeichen aller Anarchisten anmutet, das kreisförmig umrandete rote und violette A, ist nur eine spielerische Variante des allgegenwärtigen Apotheken-Signets.

www.gertrudneuhaus.de





Susanne von Bülow

Vier Brotbüsten für Dickhäuter


11Susanne von Bülow hat für die hbf-Ausstellung vier Brotskulpturen geschaffen. Brotskulpturen, nicht Backskulpturen. Das ist etwas fundamental anderes, nicht zuletzt im Herstel- lungsprozess. Und auf den Prozess kommt es der Künstlerin an. Der ist in diesem Falle mehr als nur mühselig, der ist Schwerstarbeit. Roher Teig mag ja mehr oder minder zäh sein, vielleicht auch mal zu trocken oder bröckelig – aber im Wesentlichen doch geschmeidig und formbar. Anders der Brotteig, den die Künstlerin zum Ausgangspunkt ihrer Skulpturen macht, indem sie bereits gebackene Brote aushöhlt und nur die Krume knetet. Genauso wie manche Leute es mit ihren Frühstücksbrötchen tun, weil sie die Kruste nicht mögen oder mehr Füllraum für Nussnugatcreme erzielen wollen oder weil sie lieber eine Art von Trennkost praktizieren. Von Bülow hat andere Gründe für ihr Tun: Zum einen sollen der Alltagsbezug und das Spielerische erhalten bleiben, vielleicht ganz nebenbei auch, weil sie sich so in eine Traditionslinie bringt mit Eat-Art-Künstlern wie Spoerri oder Roth. Zum anderen, und das vor allem, zeigt sie sich an der Lebendigkeit, der Fragilität und Vergänglichkeit ihres Materials interessiert.
Denn während eine gebackene Skulptur sich wie jedes andere Brot mehr oder minder gut hielte, einmal in Form gebracht und hart ausgebacken ähnlich vollendet wäre wie eine Tonskulptur, ist der nachträglich bearbeitete Brotteig viel stärker einsturzgefährdet, altert sichtbar, bekommt Risse, unterliegt Schimmel- und Schrumpfungsprozessen und der Tendenz zum sich Verkrümeln.
Natürlich spielt da auch eine ordentliche Portion Witz und Subversion mit hinein. Was von Bülow aus der Krume herstellt, sind in der Form herkömmliche, geradezu klassische Büsten, eine schon seit der Antike überlieferte Form, die üblicherweise nur hohen Herrschern zugestanden wurde – Skulpturen also, die auf Repräsentation und maximale Dauerhaftigkeit angelegt waren. Genau die wird durch das Material von vornherein sabotiert, ebenso wie komplexere Formen und feiner gearbeitete Oberflächen, die der wiederverarbeitete Brotteig einfach nicht hergibt. Auch wenn die interessanten Oberflächen der Büsten an die ganze skulpturale Kunstgeschichte von Rodin über Rosso und Giacometti bis zu Lehnerer erinnern. Um dem absehbaren Verfall entschieden entgegenzutreten, ließ sich die Künstlerin etwas einfallen. Früher hätte man die Brotbüsten vielleicht den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Heute würde man eher dazu tendieren, sie an die Enten zu verfüttern oder den Hasen zu geben. Aber nichts dergleichen: Da es um einen skulpturalen Prozess mit Symbol- und Schauwert ging, fand die Verfertigung der Büsten ebenso live und vor Publikum statt wie deren finale Verfütterung, noch zu Laufzeiten der Ausstellung – an die Elefanten im Zoo.
An die Stelle der aufgesockelten Büsten im Schaufenster trat die bildliche Dokumentation dieser Aktion – der Prozess war abgeschlossen, das Brot gefressen, die Kunst aber bleibt in Erinnerung.

www.susannevonbuelow.de



Texte: Stephan Trescher